2. Dezember 2020
Ein gehörloses Kleinkind und hörende Eltern –
Ein Blick auf Familien kurz nach der Diagnose Gehörlosigkeit
Interaktionen in Familien mit hörgeschädigten, CI-versorgten Kleinkindern werden von Ines Potthast und Prof. Bettina Lindmeier an der Leibniz Universität Hannover erforscht.
Wird ein Kind gehörlos oder hochgradig schwerhörig in eine Familie geboren, die hörend ist, trifft die Diagnose der Hörbeeinträchtigung die Eltern häufig vollkommen unvorbereitet. Miteinander brabbeln, jauchzen und alles, was bisher intuitiv zwischen Eltern und Kind geschah, wird plötzlich infrage gestellt: Das Kind kann die Eltern nicht hören – nicht einmal die vorgesungenen Lieder und die beruhigenden Worte, wenn es weint. Und dann stellt sich die Frage: Warum überhaupt mit dem Kind reden, wenn es ohnehin nichts hört? Und wie wird sein Leben aussehen? Wie soll das überhaupt gehen: sprechen lernen und zur Schule gehen?
Herausforderungen in der Familie
Die Diagnose bringt eine tiefe Verunsicherung mit sich: Eltern können nicht nur Hemmungen haben, mit dem hörgeschädigten Kind zu sprechen, sondern vermeiden auch andere Kommunikations- und Interaktionsformen wie Berührungen und Blickkontakt. Für eine positive Entwicklung benötigt ein Kind jedoch stetige Zuwendung und Kommunikation -egal, ob zunächst gesprochen oder über Berührungen vermittelt. Ein Kleinkind, das wenig positive Zuwendung erhält, kann dies nicht interpretieren, sondern nimmt das Verhalten der Eltern als Ablehnung seiner selbst wahr. Hierauf reagieren Kinder mit aggressivem Verhalten oder einem Rückzug aus dem Miteinander, wie sie es auch tun, wenn sie überfordert oder müde sind. Bei Gehörlosigkeit und schweren Hörbeeinträchtigungen bleibt diese Überforderung aber bestehen, sodass wiederholt Missverständnisse entstehen und die gemeinsame Beziehung nachhaltig belastet wird.
Das Kind kennt seine Welt nicht anders, als so, wie sie ist - die Eltern müssen die Diagnose aber zunächst selbst verarbeiten. Das eigene Kind ist nicht, wie erhofft, gesund zur Welt gekommen, sondern mit einer Behinderung. Diese Erkenntnis kann Eltern verletzen und zu einem gewissen Schockzustand führen, der wiederum ein Gefühl von Handlungsunfähigkeit hervorruft: Der Umgang mit dem eigenen Kind gestaltet sich schwierig und die Bewältigung des Alltags erscheint unmöglich.
Gerade während dieser Zeit finden Gespräche mit medizinischem und technischem Fachpersonal statt, nach denen viele Informationen über Hörgeräte, das Cochlea Implantat und Operation verarbeitet werden müssen. Einerseits bietet die Implantation die Möglichkeit, mit dem Kind sprechen zu können. Dieser Gedanke birgt Hoffnung. Andererseits stellt die Operation am Kopf des Kleinkindes ein Risiko dar. Ob und wie gut das Kind sprechen lernt, kann ebenfalls nicht vorhergesagt werden. Hinzu kommt, dass das Außenteil des Implantats nachts nicht getragen wird und das Kind so wieder gehörlos ist und die tröstenden Worte nach einem Alptraum nicht gehört werden können. Die Eltern stehen vor einem Dilemma.
Eine Entscheidung für oder gegen ein Cochlea Implantat ist für Eltern und vor allem für das Kind eine Lebensentscheidung.
Abbildung 1: Herausforderungen Gehörlosigkeit
Jeden Tag stellt sich somit für betroffene Familien die Frage nach ihrer Kommunikation und Interaktion. Vielfältige Wege miteinander in Kontakt zu treten, können Kind und Eltern dabei helfen, Missverständnisse aufzuklären und die Gehörlosigkeit zu überbrücken. Die Gebärdensprache wurde lange Zeit als hinderlich für den Lautspracherwerb angesehen. Die Annahme, Gebärden würden die Lautsprache hemmen und umgekehrt, ist widerlegt, aber außerhalb von Fachkreisen noch weit verbreitet. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Die beiden Sprachen, einmal hörend und einmal sehend wahrgenommen, ergänzen sich und helfen Familien bei ihrer Verständigung.
Pädagogische Begleitung von Familien
Betroffene Familien werden aktuell von medizinischer und technischer Seite umfassend begleitet. Auch die Entwicklung von Kindern mit Hörbeeinträchtigungen nach der Cochlea Implantat-Versorgung wird erforscht. Es bleibt aber offen, auf welche Weise Familien mit den Herausforderungen umgehen, die die Diagnose Gehörlosigkeit aufwirft. Auch ist ungeklärt, wie Entscheidungen zum Cochlea Implantat und zur Gebärdensprache getroffen werden. Wie entwickelt sich die Interaktion vor der Implantation und wie danach? Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie Unterstützung zur Kommunikation und Interaktion wirken kann und die Familien somit aus der herausfordernden Situation zu gemeinsamen Lösungen gelangen können.
Es zeigt sich deutlich der Bedarf einer pädagogischen Begleitung von Familien, um die Verarbeitung der Diagnose und die Anpassungen der Familie an die neue Situation zu unterstützen. Um dieses Anliegen erfüllen zu können, braucht es zunächst ein Verstehen der Familien und ihrem Erleben der Gehörlosigkeit. Hierzu wird in der Abteilung Allgemeine Behindertenpädagogik und -soziologie des Instituts für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover von den beiden Autorinnen geforscht.
Ines Potthast und Prof. Bettina Lindmeier
Vita: Ines Potthast, M.A. , B.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover und Stipendiatin des Cusanuswerks. Ihr Promotionsthema lautet: „Interaktion hörender Eltern mit ihren gehörlosen, Cochlea Implantat-versorgten Kleinkindern“. Sie ist Akademische Sprachtherapeutin und studierte Englisch und Deutsch für das gymnasiale Lehramt im Bachelor.
Vita: Prof. Dr. phil. habil. Bettina Lindmeier leitet die Abteilung Allgemeine Behindertenpädagogik und -soziologie am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover und ist Direktorin für Forschung der Leibniz School of Education. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem Lehrerbildung und Professionalisierung von Fachkräften, die Situation von Familien mit behinderten Kindern sowie die gesellschaftliche Partizipation behinderter und benachteiligter Menschen unterschiedlichen Lebensalters.
Fotos: Schneider
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