11. Januar 2023
Unterstützte Kommunikation bei „Hörgeschädigt Plus“ – eine gehörige Herausforderung!?
Anja Göttsche leistet viel Arbeit rund um die Unterstützte Kommunikation. Und sie setzt sich für selbstbestimmte Aktivität und Teilhabe hörgeschädigter Menschen und ihrer Bezugspersonen ein.
Vor Kurzem bekam ich eine E-Mail: „Person A ist sechs Jahre alt und bekommt jetzt beidseits Hörgeräte. Aufgrund der Trisomie 21 meinte der Ohrenarzt bislang, dass ein Test auf auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) nicht möglich sei, da die kognitiven Fähigkeiten nicht ausreichend entwickelt seien. Außerdem würden sie einen solchen Test nur nach Vorlage eines IQ-Tests durchführen. Wir sind ziemlich traurig über dieses Vorgehen und wir hoffen, dass das alles trotzdem irgendwie nachholbar ist.“
Mich erreichen viele solche Geschichten. Daher möchte ich Ihnen zwei weitere Klienten aus meinem Arbeitsalltag vorstellen: Seit 2018 begleiten wir Person B. Er ist 30 Jahre alt und lebt mit dem Charge-Syndrom und hochgradigem Hörverlust. Er möchte selbstständiger werden und lernen, wie er Probleme im Alltag allein oder mit entsprechender Technik bewältigen kann.
Person C berate ich im Rahmen externer Fachdienstleistungen für die forensische Psychiatrie. Er ist über 50 Jahre alt und wurde mit Taubheit mit ausgebliebener Lautsprachentwicklung, Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und regulativer Verhaltensstörung diagnostiziert – sein Hobby sind Geo-Zeitschriften.
Allein diese drei Personen der oben genannten Fallbeispiele sind sehr unterschiedlich. Dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit: Trotz vorhandener Gebärdensprachkompetenz ist der Grad an selbstbestimmter Aktivität und Teilhabe erheblich eingeschränkt.
Barrieren für Hörgeschädigte
Abb. 1: Barrieren, d. h. Kontextfaktoren (insbesondere Umweltfaktoren), die sich negativ auf die Funktionsfähigkeit auswirken, insbesondere auf die Teilhabe. (Symbole: METACOM© Annette Kitzinger)
Der Lebensweg eines Menschen mit der Diagnose „Hörgeschädigt Plus“ ist häufig durch zahlreiche Barrieren (Abb. 1) gekennzeichnet:
- Wer definiert den Gebärdenwortschatz?
- Wie werden Gebärden eingesetzt: Deutsche Gebärdensprache (DGS), lautsprachunterstützenden Gebärden (LUG) oder lautsprachbegleitende Gebärden (LBG)?
- Wie können die individuellen Handzeichen bei gleichzeitig motorischer Beeinträchtigung dokumentiert werden?
Welches Sprach-, Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) bietet im jeweiligen Förderschwerpunkt die Kombination mit weiteren Bildungsangeboten? - Gibt es im Netzwerk Personen, die den oralistischen Ansatz vertreten?
- Wie gelingt der Übergang von der Schule in die nachschulische Lebenswelt?
Betroffene, Eltern und Bezugspersonen stehen oftmals vor einer Vielzahl an Herausforderungen. Vor dem Hintergrund der oben angeführten Barrieren scheint die Frage berechtigt, welche Förderfaktoren sich auf der anderen Seite aufzeigen lassen?
Hilfe durch „Unterstützte Kommunikation“
Ich bin davon überzeugt, dass die „Unterstützte Kommunikation“ (UK) ein buntes und altersunabhängiges Spektrum an Optionen für Menschen mit der Diagnose „Hörgeschädigt Plus“ eröffnet. Die Prämissen, dass der Zugang zur UK an keine Mindestvoraussetzungen geknüpft ist, dass jeder Lebensvollzug als Kommunikation gedeutet werden kann und alle Ressourcen im Sinne der totalen Kommunikation ausgeschöpft werden, bilden ein tragfähiges Fundament in der UK. Sie führen sogar in der weiteren Konsequenz zu der Forderung, dass mit zunehmender Komplexität der Beeinträchtigung die Notwenigkeit des Einsatzes von UK steigt [1].
Unterstützte Kommunikation ist dabei vor allem ein pädagogisches, therapeutisches und technisches Angebot, das aus der Interaktion mit Menschen mit unterschiedlichstem Förderbedarf erwächst. UK soll „bei Menschen mit unzureichenden oder fehlenden lautsprachlichen Fähigkeiten dazu beitragen, Kommunikation und Mitbestimmung zu verbessern“ [2]. Der sich hieraus ableitende internationale Begriff der „Augmentative (ergänzend) and Alternative (ersetzend) Communication“ (AAC) wurde 1992 mit der Übersetzung der „Unterstützten Kommunikation“ (UK) in den deutschen Sprachraum übernommen.
Das Spektrum der UK an Formen, Hilfsmitteln und Techniken reicht von Gebärden über Symbolkarten, Strukturierungshilfen bis hin zur Versorgung mit elektronischen Sprachausgabegeräten (ugs. „Talker“) unterschiedlicher Komplexität und Ansteuerungsmöglichkeiten (Abb. 2).
Abb.2: Formen und Hilfsmittel (HM) in der UK
Das Spektrum der Zielgruppe reicht von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, erworbenen Beeinträchtigungen, Einschränkungen in der Orientierung/Merkfähigkeit, physischen Beeinträchtigungen/Sinnesbeeinträchtigungen, Neurodiversität, psychischen Beeinträchtigungen über Demenz-Erkrankungen bis hin zu schwerkranken Menschen UND all ihren Bezugspersonen.
Förderfaktoren für „Hörgeschädigt Plus“
Das Wissen über alternative und ergänzende Formen der Kommunikation sowie eine zunehmende Vielfalt an Förderfaktoren (Abb. 3) eröffnen neue Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu kommen, beziehungsweise diesen zu vertiefen. Dies wird insbesondere dann relevant, wenn eine Mehrfachbehinderung diagnostiziert wird, wie zum Beispiel beim Charge-Syndrom, ASS oder Trisomie 21.
Abb.3: Förderfaktoren, d. h. Kontextfaktoren (insbesondere Umweltfaktoren), die sich positiv auf die Funktionsfähigkeit auswirken, insbesondere auf die Teilhabe (Symbole: METACOM© Annette Kitzinger)
Aus meiner Sicht ist die Diagnose „Hörgeschädigt Plus“ unbedingt ein Anlass, im Sinne der UK tätig zu werden. Multiprofessionelle Teams, fachrichtungsübergreifende pädagogische Konzepte [3]., die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (BRK) und des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in ein UK-Leistungsrecht und ein UK-Assessment können dabei helfen, Menschen mit einer Mehrfachdiagnose Gehör zu verschaffen.
Ich nehme diese Herausforderung gerne an – lassen Sie uns einfach besser hören.
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Hörgeschädigt Plus ist das Titelthema der aktuellen Schnecke.
Literatur:
[1] BRAUN, U. / KRISTEN, U. (2005): Körpereigene Kommunikationsformen. In: Handbuch der Unterstützten Kommunikation. Karlsruhe, 02.003-02.007
[2] BRAUN, U. (2020): Entwicklung der Unterstützten Kommunikation in Deutschland – eine systematische Einführung, S.20. In: BOENISCH, J./ SACHSE, S. (Hrsg.), Kompendium Unterstützte Kommunikation. Stuttgart, Deutschland: Kohlhammer. 19-32.
[3] SEHEN UND HÖREN, Fachzeitschrift der Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation, 4-2020.
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