12. Dezember 2022

Das Charge-Syndrom

Dieser seltene Geburtsdefekt führt oft zu einer mehrfachen Sinnesbehinderung. Betroffene Sinne können das Sehen, das Hören, das Gleichgewicht, das Schmecken, das Riechen, aber auch die Eigenwahrnehmung (Propriozeption) und die Taktilität sein. 

Professor Doktor Andrea Wanka

Das Charge-Syndrom ist eine autosomal dominant erbliche Erkrankung, das heißt auf einer von beiden Kopien des Gens liegen Mutationen vor. In der Regel tritt Charge als Neumutation auf. Sehr selten, in ungefähr drei Prozent der Fälle, wird die Mutation vererbt, wobei dann meist ein Elternteil mild (und nicht selten undiagnostiziert) betroffen ist.

Schätzungsweise 70 Neugeborene pro Jahr betroffen

Es wird von einer Vorkommensrate von 1 auf 10.000 Lebendgeburten ausgegangen, was geschätzt 70 Neugeborene pro Jahr in Deutschland bedeuten würde. Unter Menschen mit Hörsehbehinderung/Taubblindheit stellt diese seltene Erkrankung jedoch eine signifikante Größe dar. Pädagogisch betrachtet sind Taubblindenpädagogen unter anderem deshalb – unabhängig vom Vorliegen einer kombinierten Hör- und Sehbehinderung – die Ansprechpartner im Falle eines Charge-Syndroms. Sie haben sehr häufig vermehrt Kontakt mit Betroffenen und können daher und auf Grund der pädagogischen Ausrichtung am Ehesten didaktische Hilfe leisten.

Diagnosestellung abhängig von Merkmalen

Seit 2004 ist es möglich, dass Charge-Syndrom in circa zweidrittel der Fälle genetisch auf dem CHD7-Gen des achten Chromosoms nachzuweisen. Aufgabe dieses Gens ist es, Proteine zu kodieren, die in der embryonalen Entwicklung für die Entfaltung der Wachstumsgene und fortfolgend für die Entwicklung einzelner Organe zuständig sind. Dies erklärt auch die hohe Vielfalt der Auswirkungen des Charge-Syndroms auf betroffene Menschen. Die Veränderung des Gens führen bei verschiedenen Organen zu Entwicklungsfehlern unterschiedlichen Ausmaßes. 

Genetische und klinische Diagnose möglich

Neben der seit 2004 möglichen genetischen Diagnose ist immer auch eine klinische Diagnose möglich. Hierzu wird in der Regel eine von Verloes 2005 publizierte Unterteilung in Haupt- und Nebenkriterien genutzt. Zu den Hauptkriterien zählen sogenannte Kolobome des Auges (Spaltbildungen in Iris oder Aderhaut, mit oder ohne Mirkophtalmus), eine Verengung oder ein Verschluss der Nasen-Rachenraum-Passage (Choanalatresie oder Choanalstenose) und unterentwickelte Bogengänge. Die Nebenkriterien werden nach Verloes unterteilt in die Dysfunktion des Rautenhirns (kraniale Auffälligkeiten), Fehlbildungen von Organen des Mittelfells, eine hypothalamo-hypophysäre Dysfunktion (urogenital-endokrinologische Auffälligkeiten), Fehlbildungen des äußeren Ohres und des Mittelohrs sowie eine kognitive Behinderung beziehungsweise eine psychomotorische Entwicklungsverzögerung. Ferner schlägt Verloes die Möglichkeit der Diagnosestellung eines typischen (3 Haupt- oder 2 Haupt- und 2 Nebenkriterien), partiellen (2 Hauptkriterien und 1 Nebenkriterium) und atypischen Charge-Syndroms (2 Hauptkriterien oder 1 Hauptkriterium und 2 Nebenkriterien) vor.

Ursprünglich als "Hall-Hittner-Syndrom" bekannt

Bekannt ist das Syndrom seit 1979. Hall und Hittner fanden in ihren Studien eine Ansammlung von Auffälligkeiten, die für dieses Syndrom sprachen, daher wurde es anfänglich „Hall-Hittner-Syndrom“ genannt. Das heutzutage bekannte Akronym Charge wählten Pagon et al. 1981. Diese Abkürzung greift die damals geltenden Hauptkriterien auf, von denen es vier bedurfte, um eine klinische Diagnose zu stellen:

  • Coloboma (Kolobom des Auges)
  • Beart Defects (Herzfehler)
  • Atresia choanae/Choanalatresie (Verengung oder Verschluss der Nasen-Rachenraum-Passage)
  • Retarded Growth and Development (Verzögerte Allgemein- und/oder Größenentwicklung)
  • Genital Anomalies (Anomalien des Genitalbereichs)
  • Ear Anomalies (Anomalien der Ohren)

Bis heute wird das Akronym fälschlicherweise als Erklärung des Syndroms und der typischen Merkmale genutzt. Doch mit der Zeit wurden noch weitere, zum Teil sehr spezifische Merkmale identifiziert. Hierbei handelt es sich vor allem auch um Merkmale, die eher selten bei anderen Syndromen auftreten und somit als Alleinstellungsmerkmale gelten können.

Lebenserwartung

Es gibt wenige Informationen hinsichtlich der Lebenserwartung. Aktuell wird von einer normalen Lebenserwartung ausgegangen. Einschränkend muss benannt werden, dass die Schwere der Symptome, insbesondere des Herzfehlers, der Choanalatresie und der Verbindung zwischen Luft- und Speiseröhre (tracheo-ösophageale Fistel) zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen kann. Vor allem in den ersten fünf Jahren, doch besonders im ersten Lebensjahr. 

In 70 Prozent der Fälle hat dies jedoch keine Auswirkungen (70%-Überlebensrate in den ersten fünf Jahren). Ebenso ist die Sterblichkeitsrate bei und nach Operationen höher. Dem kann aber mit erfahrenen und darauf vorbereiteten Anästhesisten entgegengewirkt werden.

Ausprägung der Merkmale

Menschen mit Charge-Syndrom werden häufig als wahrhaft mehrfach sinnesbehindert bezeichnet, da bei ihnen alle Sinne, die der Wahrnehmung der Welt dienen, betroffen sein können. Darüber hinaus werden die Sinneseindrücke beim Wahrnehmungsprozess zusammengeführt. Ist einer oder sind mehrere Sinne durch eine Beeinträchtigung verändert, nimmt dies Einfluss auf die Integration der Sinneseindrücke. 

Die Ausprägung des Charge-Syndroms weist eine hohe Diversität auf. Manche Menschen haben wenige und/oder gering ausgeprägte Symptome und gelten als „mild“ betroffen. Bei anderen Menschen liegen zahlreiche auch in ihrem Schweregrad hoch ausgeprägte Symptome vor, die massiven Einfluss auf die allgemeine Entwicklung nehmen oder die eine Kompensation eines anderen Bereichs erschweren. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Seh- und eine Hörbehinderung vorliegen, sodass der Sehsinn nicht oder nur eingeschränkt den Ausfall oder die Einschränkung des Hörsinns kompensieren kann und sich die Gesamtbehinderung potenziert. 

Umgebung nicht auf Menschen mit Charge-Syndrom eingestellt

So vielfältig wie die Ausprägung des Syndroms, sind auch die Persönlichkeiten, die Umweltfaktoren und die personenbezogenen Faktoren, die Auswirkungen auf die Wünsche und Möglichkeiten eines Menschen mit Charge-Syndrom haben. Dem Grunde nach ist alles, was bei Menschen ohne Behinderung möglich ist, an schulischer und beruflicher Laufbahn denkbar, je nach Interessen und Kompetenzen. Evidenzbasiert ist es schwer Aussagen über die Erfolgschancen zu treffen. Aus dem Erfahrungswissen erleben wir jedoch immer wieder, dass die Welt nicht auf Menschen mit Charge-Syndrom, mit ihren spezifischen Bedarfen eingestellt ist. Ist die den Menschen umgebende Umwelt jedoch offen, das Verhalten zu verstehen und darauf einzugehen, finden sich oftmals individuelle Lösungen hinsichtlich des Berufs, der Wohnsituation und der Freizeitgestaltung im Erwachsenenbereich.

Prof. Dr. Andrea Wanka

 


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