Am 9. Mai übernahm Jürgen Dusel das Amt des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung. Er folgt damit auf Verena Bentele. Dusel war seit 2010 Beauftragter der Landesregierung Brandenburg für die Belange der Menschen mit Behinderungen. In dieser Funktion sprachen wir mit ihm über die Querschnittsaufgabe Inklusion.
Herr Dusel, Sie haben von klein auf eine Sehbehinderung. Wieso waren Sie auf einer Regelschule?
Jürgen Dusel: Ich habe auf einer Regelschule, einer Gesamtschule in Südhessen, Abitur gemacht. Darauf haben meine Eltern, insbesondere mein Vater, großen Wert gelegt. Allerdings war es gar nicht so einfach, dass ich diese Schule besuchen konnte. Aufgrund der Sehbehinderung sollte ich auf eine Förderschule. Ich bin froh, dass sich meine Eltern durchsetzen konnten. Die Interaktion mit anderen, nichtbehinderten Kindern war, neben der schulischen Förderung, sehr wichtig für mich. Deshalb bin ich so ein leidenschaftlicher Verfechter von Inklusion, damit Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zur Schule gehen – wenn denn die Voraussetzungen dafür stimmen.
Welche sind das Ihrer Meinung nach?
Es fängt mit der Akzeptanz von Vielfalt an, damit, dass Kindern mit Behinderungen in der Regelschule offen begegnet wird. Oftmals wird ja gesagt, es müsse entsprechend Personal zur Verfügung gestellt werden. Das kann man alles diskutieren. Aber ich habe selbst erfahren, wie sehr viele Lehrkräfte anfangs gar nicht bereit waren, sich auf das Prinzip Inklusion überhaupt einzulassen. Und wenn die Bereitschaft nicht da ist, seine pädagogischen Konzepte auch mal umzustellen, dann klappt das natürlich nicht. Deshalb ist Akzeptanz für mich das Wesentliche.
Mit der Öffnung der Regelschulen für Kinder mit Behinderungen wird die Kritik an der inklusiven Beschulung immer lauter: Es fehle an Personal, die Kinder könnten nicht richtig gefördert werden, bemängeln Betroffene und Experten.
Das ist sicherlich ein Thema und das ist auch normal. Es gibt keinen Königsweg zur Inklusion. Wir befinden uns in einem Prozess. Und wenn etwas nicht so gut läuft, muss man darüber diskutieren, wie es besser gelingen kann. Bei der Inklusion darf es natürlich nicht damit getan sein, Kinder mit und ohne Behinderungen in eine Klasse zu stecken. Es braucht entsprechende pädagogische Konzepte, es muss über zusätzliche Lehrkräfte nachgedacht werden. Sonst kommt es eher zur Konfusion als zur Inklusion. Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf verlieren diesen schließlich nicht, nur weil sie in eine Regelschule gehen. Trotzdem bleibe ich dabei: Es muss in erster Linie die Schule bereit sein, sich auf den Weg zu machen, statt immer nur zu denken: „Mein Gott, das kann man uns doch nicht zumuten!“ Es ist im Grunde nicht vermittelbar, dass Kinder täglich mit einem Fahrdienst 40, 50 Kilometer durch das Land gefahren werden, nur weil die Schule vor Ort nicht in der Lage ist, einen sonderpädagogischen Bedarf abzudecken.
Vorbehalte an inklusiven Regelschulen haben aber auch Eltern behinderter Kinder und ziehen die Förderschule mitunter vor.
Genau das ist der Punkt. Wenn die Eltern das Gefühl hätten, dass in der Regelschule der entsprechende Unterstützungsbedarf gegeben ist, glaube ich, würde die Förderschule auch an Attraktivität verlieren. Schlussendlich gibt es uns die UN-Behindertenrechtskonvention vor: Wir sind verpflichtet, unser Bildungssysteme für Kinder mit Behinderungen zu öffnen. Die Bedingungen müssen so sein, dass Kinder mit Behinderungen in der Regelschule unterrichtet werden können. Solange die Regelschulen aber nicht so gut sind, kann ich den Wunsch der Eltern nach Wahlfreiheit zwischen Regel- und Förderschule nachvollziehen. Ich kenne allerdings eine Reihe von Regelschulen, die ihre Sache sehr gut machen. Ich erinnere zum Beispiel an den Jakob-Muth-Preis, der jetzt wieder vergeben wurde.
Sehen Sie ein Problem in dem zweigleisigen System der inklusiven Regelschulen und Förderschulen?
Was Förderschulen betrifft, haben wir in Sachen Bildung in den letzten Jahren sehr viel erreicht. Auch die Berufschancen beispielsweise von blinden jungen Leuten sind wesentlich bessere als noch vor fünfzig Jahren. Aber wir haben diese Erfolge erkauft durch eine Separierung. Und bei allen Erfolgen haben wir auch nach wie vor große Schwierigkeiten, Inklusion im Berufsleben voranzutreiben, weil sich nichtbehinderte Menschen oft nicht vorstellen können, was Menschen mit Behinderungen zu leisten in der Lage sind.
2015 haben von 156.000 beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern 40.000 keinen Menschen mit Behinderungen beschäftigt. 93.000 mussten eine Ausgleichsabgabe zahlen, weil sie die Beschäftigungsquote nicht eingehalten haben.
Ja, und warum fällt es Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern so schwer, Menschen mit Behinderungen einen Job zu geben? Weil sie in der Regel keine Kontakte zu Menschen mit Behinderungen hatten. Wir hätten diese Probleme im Berufsleben nicht, wenn wir von Anfang an gemeinsam lernen und groß werden würden. Diejenigen, die mit mir Abitur gemacht haben, haben durch mich erfahren, dass man Leistungen auch erbringen kann, wenn man beim Lesen mit der Nase förmlich am Blatt klebt. Und wahrscheinlich wäre heute auch so mancher Marktplatz in der Bundesrepublik anders gepflastert, wenn die Verantwortlichen Mitschülerinnen und Mitschüler gehabt hätten, die im Rollstuhl sitzen. Es ist wirklich an der Zeit darüber nachzudenken, ob dieses trennende Konzept der Förderschulen für die Zukunft noch trägt. Und solange es für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung nach der Förderschule nur Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen gibt, kann ich von einer Wahlfreiheit nicht sprechen.
Nun liegt die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention bereits Jahre zurück, das Thema Inklusion wird aber nach wie vor emotional diskutiert. Der richtige Weg zu einer inklusiven Gesellschaft scheint nach wie vor nicht gefunden. Woran liegt das?
Wir müssen in längeren Zeitabschnitten denken. Man kann Inklusion nicht verordnen. Inklusion ist eine Haltungsfrage und setzt eben nicht nur staatliches Agieren voraus. Wenn man sich anschaut, wie die Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderungen in der ehemaligen DDR waren, dann sieht man, dass hier in Brandenburg in den letzten 25 Jahren unheimlich viel passiert ist. Und ich hoffe, dass wir in 20 Jahren Strukturen haben, die uns heute ebenso illusionär vorkommen, wie den Menschen damals in Brandenburg. Inklusion ist ein Menschenrecht und wir sind schlichtweg dazu aufgerufen, die Umsetzung gut zu machen. Dazu gehört auch, bestehende Problemlagen nicht kleinzureden. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir kluge Köpfe haben, die vernünftige Konzepte entwickeln können. Die Durchsetzung dessen setzt aber voraus, dass unsere Gesellschaft offen ist für Vielfalt. Ich finde aber, dass in den letzten neun Jahren durchaus einiges passiert ist, vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung. Wir haben endlich begriffen, dass Politik für Menschen mit Behinderungen Politik für Menschen ist. Das klingt so banal, aber in der Vergangenheit hieß es oft: Das ist Sozialpolitik. Und das ist natürlich grundfalsch! Denn Inklusion ist Sozialpolitik, es ist Bildungspolitik, aber es ist auch Baupolitik und Gesundheitspolitik. Inklusion ist eine Querschnittsaufgabe und es ist ein Prozess. Wir werden noch einen langen Atem brauchen.
Das Interview führte Marisa Strobel, es erschien zuerst in der Schnecke 97 (September 2017).
Infobox:
Jürgen Dusel ist seit Mai 2010 der Beauftragte der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderungen in Brandenburg. Seine Aufgabe ist es, die Gleichbehandlung von Menschen mit und ohne Behinderungen durchzusetzen. Dusel, der von Geburt an stark sehbehindert ist, wurde am 14. Februar 1965 in Würzburg geboren. Seit 1998 lebt und arbeitet der Jurist in Brandenburg.
Foto: Jürgen Dusel