14. Mai 2020

„Earshot“: Die Zwischentöne sehen

In ihrem Buchprojekt „Earshot“ porträtiert die Melbourner Fotografin Kate Disher-Quill Australier und ihre Erfahrungen und Geschichten mit Taubheit und Hörverlust. Ihr Ziel: die Barrieren zwischen „uns“ und „euch“ abzubauen und mehr Verständnis und Miteinander zu gewinnen.

Jeder Mensch ist einzigartig – und für Hörgeschädigte gilt dies manchmal ganz besonders. Zum Beispiel Jilian, die das Dilemma so verständnisvoll wie entlarvend umschreibt: „Die vielleicht größte Barriere, mit der wir konfrontiert sind, ist die gängige Annahme, dass Menschen entweder nur taub oder eben hörend sein können.“ Oder Rosia: „Sogar mit zwei Cochlea Implantaten kostet es dich oft große Mühe, die anderen zu verstehen“, sagt sie und ergänzt: „Manchmal muss man einfach fliehen, um dem Ganzen zu entkommen. Um in seiner eigenen Welt zu sein. Schweigend und friedlich." Etwas radikaler bringt Billy seine Situation auf den Punkt: „Es ist nur dann eine Scheiß-Sache, wenn du es zulässt!“

Jilan, Rosia und Billy sind drei der insgesamt 36 Protagonisten, deren Geschichten die australische Fotografin Kate Disher-Quill in ihrem Bildband „Earshot“ mit Text und Fotos verwoben hat und so einen Einblick in die Erfahrung von Taubheit und Hörverlust gibt. Mal war eine Erkrankung in der Kindheit oder ein Unfall Ursache für den Hörverlust, oft als schleichender Prozess.

„Fühlte mich fehl am Platz“
Auch bei der Fotografin Kate selbst: Im Alter von drei Jahren wurde bei ihr ein mittlerer Hörverlust diagnostiziert. Mit zehn bekam sie ihr erstes Paar Hörgeräte – und fühlte sich fortan „völlig fehl am Platz“ in audiologischen Praxen, umgeben von Bildern älterer Menschen. Oder in der Schule , wo sie ihre Hörgeräte schlicht verweigerte. Ihre Eltern konnten nicht viel ausrichten: „Sie sahen ja, wie quälend die Siuation für mich war.“ Während der gesamten Schul- und Universitätszeit sprach Kate kaum über ihre Schwerhörigkeit, ihre Hörgeräte trug sie nur privat. Über 16 Jahre ging das so. Selbst dann noch, als sie ihre Arbeit als freiberufliche Fotografin aufnahm: „Bei dem Gedanken, dass ein Kunde mich mit Hörgeräten sieht, bekam ich weiche Knie, da ich glaubte, dass sie mich irgendwie für weniger fähig halten würden.“

Diese Einstellung änderte sich erst vor einigen Jahren. Plötzlich und zufällig, im April 2014, gelang Kate ein entscheidender Perspektivwechsel: Sie blätterte durch eine Zeitschrift und stieß auf einen Artikel einer 27-jährigen Fotografin, die ebenfalls taub war. Aber offen schilderte, wie unangenehm es ihr sei, in Gesprächen die Pointen zu verpassen. Oder wie peinlich es war, als Teenager den Jungs zu offenbaren, dass sie taub war. Und wie frustrierend es ist, Filme ohne Untertitel anzuschauen. Dann erklärte sie, dass visuelle Bilder schon immer ein großer Teil ihres Lebens gewesen wären und dass es für sie selbstverständlich war, eine Karriere als Fotografin zu verfolgen. „In der Mitte des Artikels bemerkte ich, dass mir Tränen über das Gesicht rollten“, erinnert sich Kate Disher-Quill.

Geschichten mit Wirkung
Während die junge Kollegin in dem Artikel mit zwei Cochlea-Implantaten zutiefst taub war, spiegelten viele der Erfahrungen, Gedanken und Gefühle, die sie beschrieb, ihre eigenen wider. Zum ersten Mal in ihrem Leben fand sie Trost in der Tatsache, dass die Gefühle, die sie hatte, nicht nur ihre eigenen waren: „Wie konnte ich schon 26 Jahre alt sein, aber hatte bisher nicht erkannt, dass es andere Menschen wie mich gibt und dass Taubheit eigentlich eine Diskussion wert ist – und nichts ist, wofür man sich schämen müsste?“

Mit diesem Artikel, sagt Kate, hat sich ihr Leben entscheidend verändert. Und dies nicht nur durch einen neuen, freien Blick auf sich selbst, sondern auch durch folgende, wertvolle Anregung: Wenn tausend Worte in einer Zeitschrift eine solche Wirkung auf sie entfalteten, überlegte sie, wie könnte sie selbst dann womöglich mit Hilfe von Fotografie und Geschichtenerzählen das Gleiche für so viele andere erreichen? Da sie schon seit ihrer Kindheit mit großer Leidenschaft fotografierte und später visuelle Kommunikation studierte, verstand sie die Macht des visuellen Geschichtenerzählens sofort.

Vielfalt feiern
Was nun folgte, war eine fünfjährige Reise, um das Projekt „Earshot“ abzuschließen. Ein Projekt, das Taubheit und Hörverlust aus der audiologischen Klinik heraus und in das Leben der unzähligen davon betroffenen Menschen hinein bringen sollte. Die Geschichten der jungen Tauben und Schwerhörigen offenbaren den Herzschmerz, die Freude, die Kämpfe, die Errungenschaften und die Komplexität der Taubheit. „Die treibende Kraft hinter diesem Projekt war es, etwas zu schaffen, das mir geholfen hätte, meine Taubheit viel früher in meinem Leben zu akzeptieren“, so Kate Disher-Quill. „Uns zu inspirieren, zu ermächtigen und uns zu helfen zu verstehen, dass es Kraft gibt, unsere Verwundbarkeit zu offenbaren. Uns zu zeigen, dass die Vielfalt unsere Gesellschaft bereichert und dass sie etwas ist, das gefeiert werden muss.“

Nicola Malbeck

Der Fotoband:
Kate Disher-Quill, EARSHOT,
Schwartz Publishing, 176 Seiten
49,99 AUD (ca. 31 €)
Earshot.com.au


Foto: Phoebe Powell 


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