18. Januar 2022
DCIG Fachtagung 2021– "Eine Taubheit kann Menschen jeden Alters treffen"
Zweimal wurde die 7. Fachtagung der DCIG aufgrund der Pandemie verschoben. Ende Oktober war es dann am 29. und 30. Oktober endlich soweit. Zum Thema „Mit dem CI durchs Leben: Veränderungen, Umbrüche, Wandel“ traf sich die CI-Selbsthilfe mit Fachleuten in Hamburg und genoss vor allem das Wiedersehen.
Zwei Tage lang gab es für die Teilnehmenden ein dicht gedrängtes Programm an Vorträgen, Videos und Interviews, thematisch in Blöcke von der Wiege bis ins hohe Alter unterteilt, oder, um es in der Wortwahl der Organisierenden zu formulieren: von der Geburt über Spracherwerb, Schulzeit, Ausbildung, Studium bis zu Berufsleben und Ruhestand. Denn: „Eine Taubheit kann Menschen in jedem Lebensalter treffen“, sagte Dr. Roland Zeh, Präsident der DCIG und Tagungsleiter.
Zwischen den Blöcken gab es viele Gespräche und Treffen mit alten (und neuen) Bekannten, ein gewollter, wichtiger Bestandteil der Fachtagung. Zeh formulierte es so: „Selbsthilfe lebt vom Erfahrungsaustausch.“ Und die rund 100 Teilnehmenden machten davon rege Gebrauch, informierten sich auch bei den Aussstellern im Foyer, unter anderem den CI-Herstellern Cochlear, Advanced Bionics, Med-El, Oticon Medical sowie Humantechnik und dem DSB Hamburg, die auch zum Zustandekommen der Fachtagung beitrugen. Unterstützt wurde die Veranstaltung zudem von der Aktion Mensch und der GKVGemeinschaftsförderung.
„Barrierefreiheit ist Qualitätsmerkmal“
Jürgen Dusel, Schirmherr der Fachtagung und Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, würdigte die DCIG als eine wichtige und wertvolle Partnerin im Einsatz für eine selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Die dafür notwendige Barrierefreiheit sei ein Begriff, der gefüllt werden müsse: „Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit müssen Zugang zu den Systemen haben, seien es der gebaute Raum, die Informationen beim Arzt oder der digitale Raum.“ Barrierefreiheit sei ein Qualitätsmerkmal für ein modernes Land. Es sei „cool“, in einem Land zu leben, das möglichst wenig Barrieren habe. Dusel sagte weiter: „Wer heute etwas baut, herstellt oder in Verkehr bringt, ohne Barrierefreiheit zu berücksichtigen, der macht einen schlechten Job. Das betrifft unter anderem Gebäude, Dienstleistungen und Medienprodukte.“
Dr. Günter Beckstein, ehemaliger bayrischer Ministerpräsident und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von DCIG und Schnecke, erläuterte, live zugeschaltet aus seiner fränkischen Heimat, seinen persönlichen Weg zum Hörgeräte und CI-Träger, welche Hürden es mit der Finanzierung gab und warum es sich dennoch gelohnt hat: „Ohne CI hätte ich mein Leben seit 2010 nicht so führen können“, sagte Beckstein, nämlich ein Leben als aktiver, gesellschaftlich engagierter Politiker mit vielen Sozialkontakten. Sein Appell: „Schauen Sie nicht so sehr darauf, wie es aussieht, ein Hörgerät oder ein CI zu tragen. Weitaus wichtiger ist, dass Sie besser damit hören!“
Frühe Diagnosestellung
Prof. Dr. Katrin Neumann vom Universitätsklinikum Münster berichtete vom Erfolg des Neugeborenen-Hörscreenings, aber auch von Überforderungen des Personals. So habe sich das Diagnosealter zwar deutlich verjüngt von zwei Jahren auf durchschnittlich vier Monate, berichtete die WHOSachverständige für Hörscreenings. „Damit kamen wir in eine Zeit rein, in der das Hörhirn und die Hörnervenbahnen einer Therapie noch optimal zugänglich sind.“ Sehr viele seien jedoch unsicher, was die Interpretation der Ergebnisse anbelangt. Eltern wünschten „schnelles Handeln, unvoreingenomme Information, Kontakt zu anderen Eltern“.
Prof. Dr. Maria Schuster von der LMU München gab in ihrem anschließenden Vortrag über den weiteren Weg nach der Diagnosestellung zu Bedenken, dass, wenn sie insbesondere bei Kleinkindern mit der Diagnose einer Hörschädigung konfrontiert werde, „aus ärztlicher Sicht uns immer die Zeit im Nacken“ sitze, was die weitere Behandlung und Versorgung anbelangt. Dies bestätigte auch Prof. Dr. Vanessa Hoffmann von der HAW Hamburg. Für den Spracherwerb von CI-Kindern sei zudem die Qualität der elterlichen Sprache wesentlich. Für die Förderung sei daher wichtig, die Eltern-Kind-Interaktion entwicklungsbegleitend zu optimieren.
Stefanie Töle vom Landesförderzentrum Schleswig kritisierte, dass manche Eltern nicht mit ihren hörgeschädigten Kindern kommunizierten, weil die „eh nicht hören“. Dies sei falsch. Für die Entwicklung der Kinder sei es wichtig, dennoch zu sprechen und auf andere Art zu kommunizieren.
Über die gebärdensprachlichen Fördermöglichkeiten informierte Tamara Gierend vom Niedersächsischen Institut für die Gesellschaft Gehörloser und Gebärdensprache. Während gehörlose Kinder in ihrer Muttersprache gefördert würden, könnten auch CI-versorgte und schwerhörige Kinder die Gebärdensprache als zweite Sprache lernen. Entsprechende Hausgebärdensprachkurse könnten über die Teilhabe beantragt werden.
Der Weg in die Schule
Björn Ernst schilderte die Hörreise seines Sohnes Jakob, der als Säugling nach einer Meningitis ertaubt war. Für Ernst war nach der CI-Versorgung sehr berührend zu erkennen, wie viele „akustische Dinge es für Kleinkinder zu entdecken“ gebe. Sein Ratschlag vor der Einschulung: „Ein bis zwei Jahre vor Schulbeginn Kontakt zur Behörde suchen wegen möglicher baulicher Veränderungen.“ Gegen den Widerstand der Schulbehörde haben Jakobs Eltern seine Befreiung für das erste Schuljahr „durchgekämpft“, berichtete Ernst. Er empfiehlt, nicht nur Briefe zu schreiben und Formulare auszufüllen, sondern direkt mit den Sachbearbeitern und zuständigen Personen in den Behörden und Einrichtungen zu sprechen.
Einen Einblick in ihren Schulalltag gaben die elfjährige Elsa Petersen und Jim Unser, zwölf Jahre, im Interview mit Pascal Thomann vom CIV Nord, die sowohl auf einer Hörgeschädigtenschule (Jim) als auch auf einer Regelschule (Elsa) positive Erfahrungen gemacht haben. Beide gehen selbstverständlich und selbstbewusst mit ihrer Hörbeeinträchtigung um. Ähnliches schilderte auch Oberstufenschülerin Zoé Schröder. An der Regelschule wurde sie die vergangenen zehn Jahre von einer Beratungslehrerin betreut, welche unter anderem die Akustik in den Klassenräumen begutachtete und die Lehrkräfte sowie Mitschüler über die Auswirkungen einer Hörbeeinträchtigung aufklärte.
Bernd Günter von der Landesschule für Gehörlose und Schwerhörige (LGS) Neuwied machte sich für den Fortbestand der Förderschulen stark. Neben der Beschulung vor Ort berät die Einrichtung bei der Entscheidungsfindung und unterstützt hörbeeinträchtigte Schüer an Regelschulen (s. auch Interview, Schnecke Nr. 108). Auch Friedrich Erdmann-Barocka von der Johannes-Wagner-Schule in Nürtingen berichtete von der Entwicklung von Förderschulen als „kleine Dörfer“ hin zu Bildungs- und Beratungszentren rund um Hörbeeinträchtigung. Für die Hörgeschädigtenschule der Zukunft wünscht er sich einen „Marktplatz an Angeboten“, der Regelschülern in Workshops Kompetenzen und Impulse zum Umgang mit der eigenen Hörbeeinträchtigung biete.
Vom Studium in den Beruf
In einem lockeren Gespräch gaben Jan Röhrig und Tilmann Stenke den Teilnehmenden Einblicke in ihre Zeit an der Hochschule. Stenkes Bilanz bezüglich Unterstützung viel wenig positiv aus: „Ich habe den Integrationsdienst eher als bürokratische Hürde erlebt.“ Viel habe sich um Datenschutzerklärungen gedreht. Auch Röhrig machte die Erfahrung: „Man muss selbst zum Experten werden.“ Während Röhrig unter den Kommilitonen schnell Anschluss gefunden habe, sei dies Stenke zunächst schwergefallen. Er wechselte schließlich zu einem dualen Studium. „Ich denke, das ist auch Typsache“, sagte Stenke. Parallel habe er die Selbsthilfefür sich entdeckt.
Als Annalea Schröder, von klein auf mit Hörgeräten und später mit Cochlea-Implantat versorgt, ins Berufsleben startete, war sie noch in einer Phase, in der sie ihre Hörschädigung verdrängte. Entsprechend schwer sei es ihr gefallen, auf kommunikative Probleme aufmerksam zu machen. Die Selbsthilfe habe essenziell zu ihrer Lernkurve beigetragen. „Wenn die Identität klar ist, kann man viel stärker für seine Bedürfnisse einstehen“, sagte Schröder.
Das bestätigte auch Dr. Oliver Rien, der über Umschulungsmöglichkeiten referierte. Hörgeschädigte täten oft alles dafür, nicht aufzufallen. Dieser Funktioniermodus führe zu einem hohen „Akku-Verbrauch“. „Das ist eine Problematik, die man nicht mit einer Umschulung beheben kann“, sagte Rien. Als Lösungsansätze zählte der Psychologe unter anderem auf: Technik nutzen, soweit sie hilft, offen mit der eigenen Hörbeeinträchtigung umgehen, die Ansprüche und Gesetze kennen, Selbstmanagement und Mut.
Vieles davon hat Rudolf Eckmüller aus Bayern bereits umgesetzt. In seinem Vortrag beschrieb der selbstständige Berater, wie er seinen Weg fand, mit einem zunehmenden einseitigen Hörverlust umzugehen und trotzdem seine Auftraggeber zu behalten. Ihn plagten Existenzängste, doch sein Konzept, offen gegenüber seinen Kunden zu sein, ging auf. Dennoch habe ihn die einseitige Taubheit zunehmend belastet. Entsprechend schnell fiel die Entscheidung für eine CI-Versorgung. Ein Jahr nach der OP habe er seine Einschränkungen meist im Griff, klammere sich dabei aber nicht an die Technik. „Denn das kann auch Stress bedeuten“, sagt Eckmüller. „Irgendwann muss man dann sagen: Schluss, ich lebe mein Leben und akzeptiere meine Grenzen.“
Unterstützungsmöglichkeiten
Die Kommunikation am Arbeitsplatz erleichtern kann unter anderem Schriftdolmetschung. Die Möglichkeiten dazu stellte Carmen Hick vor – und zeigte deutlich auf, dass „KI“ eine echte Schriftdolmetschung nicht ersetzen kann. Kostenträger seien unter anderem die Eingliederungshilfe, die Agentur für Arbeit und die Integrationshilfe.
Ira Kummrow wiederum präsentierte das Projekt Joblotse in Leipzig, das es sich zur Aufgabe gemacht habe, Menschen mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. „Ich sehe meine Rolle darin zu bestärken, aufzuklären, zu informieren“, sagte Kummrow.
Eine weitere Unterstützungsmöglichkeit ist die Schwerbehindertenvertretung, über die Rechtsanwalt Marcus Ulrich Dillmann referierte (siehe ab S. 63 im Heft). In Anbetracht der anstehenden Wahlen 2022 warb er dafür, sich zu beteiligen, gegebenenfalls sogar aufstellen zu lassen.
Im Ruhestand
Peter Drews vom Bund der Schwerhörigen Hamburg beschrieb eindringlich, wie schwierig und belastend es sei, mit Masken tragenden Menschen zu kommunizieren. Die Coronakrise habe die Isolation Schwerhöriger nochmals verstärkt. Kontaktverbote und Verständigungsprobleme seien besonders herausfordernd für Menschen, die in Heimen lebten. „Wir brauchen Internet in Seniorenheimen, gerade in Zeiten der Pandemie“, mahnte Drews.
Fehlende Kontakte sind aber nur ein Problem im Alter. Pflegedienstleiterin Katja Drews sprach sich eindringlich für eine barrierefreie Pflege aus. Informationen über Hörschädigungen und Hilfsmittel wie Hörgeräte gehörten in die Ausbildungscurricula von Pflegekräften, forderte sie.
Den Abschluss der Vortragsreihe bildete Prof. Dr. Robert Perneczky von der LMU München. Sein Spezialgebiet: Demenz. „Je älter wir werden, desto häufiger sind dementielle Erkrankungen“, sagte Perneczky. Zugleich seien nicht alle 90-Jährigen an Demenz erkrankt. „Wir sind dem also nicht komplett hilflos ausgeliefert.“ Zusammenhänge seien unter anderem zwischen unbehandeltem Hörverlust im mittleren Lebensalter und Demenz entdeckt worden (s. auch Schnecke Nr. 107). Ein Punkt, der CI-Träger weniger trifft, wie Dr. Roland Zeh festhielt: „Wir CI-Träger können nicht altersschwerhörig werden.“ Sein Fazit zur Tagung: „Es war einfach schön, dass wir uns wieder treffen konnten.“
Text: Klaus Martin Höfer, Marisa Strobel, Fotos: Klaus Martin Höfer
Der Artikel erschien in der Schnecke 114/Dezember 2021.
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