perspektive | evitkepsrep
Anfang Mai kamen 40Teilnehmer zum „Perspektiv-Wechsel – Die Dinge anders hören und sehen“ zusammen. Ein Erfahrungsbericht über die DCIG-Blogwerkstatt von Teilnehmerin Maria Keim.
„Es gibt nur ein perspektivisches Sehen […]; und […] je mehr […] verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein.“ ~ Friedrich Nietzsche, deutscher Schriftsteller
Du tauchst deine Füße in den Inn. Er ist so kalt, dass deine Zehen so taub werden wie deine Ohren. Es schmerzt, aber auf eine gute Art. Schaudernd löst du deinen Blick vom Fluss und hebst ihn zu den mächtigen Alpen hinauf. Dein Tinnitus kommt dir plötzlich vor wie ein Sirenengesang, der von den Gletscherspitzen aus nach dir lockt.
„Ich mag es nicht, die CI-Prozessoren vom Kopf zu ziehen“, sagt er. „Denn die Stille macht mir Angst.“
Der Ort, wo ihre Implantate aus Platin und Silikon zusammengelötet wurden, erinnert sie mit seinen Mikroskopen, dem hyperbaren Reinraum und dem Fotografierverbot an ein hochsteriles Labor aus einem Pandemie-Film. Aber eigentlich steht sie in der beeindruckenden Hauptzentrale des Herstellers Med-El. Sie hat etwas Mühe, den österreichischen Akzent der Dame zu verstehen, vor allem das fremde R und Wörter wie „Qualitätskontrolle“. Aber wie immer schlägt sie sich durch.

Das Kopfsteinpflaster ist warm unter unseren nackten Füßen, während wir spontan vor der Bühne in der Innsbrucker Innenstadt zu tanzen anfangen, und uns ist egal, ob wir den Takt treffen. Wir, ein Pulk von Schwerhörigen, fallen auf. Ein spanischer CI-Träger gesellt sich stolz zu uns, ein Lehrer bricht in Tränen aus, die österreichische Presse fotografiert uns und zuletzt schwenken sogar die Fernsehkameras auf unsere zahllosen T-Shirt-Aufdrucke mit dem Slogan ‚Taub und trotzdem hören‘.
„Ich bin so froh, dass wir gezwungen wurden, neben jemandem zu sitzen, den wir noch nicht kennen“, sagen seine Hände. Der Regen, der gegen die Busscheibe trommelt, wird von der Sonne abgelöst, in deren Strahlen die Zugspitze glänzt. „Sonst hätte ich deine Sicht auf die Welt womöglich niemals kennengelernt.“
Sanft und wohlartikuliert dringt die Stimme der Museumsführerin vom Buchheim-Museum über die digitale Übertragungsanlage in meine Hörprozessoren und lenkt den Blick meiner Augen tiefer in das expressionistische Ölgemälde „Der schlafende Pechstein“ (1910) von Erich Heckel hinein: Abendröte in ihre Nuancen von Karminrot aufgefächert; das wohlige Lächeln eines Mannes, der sich entspannt tiefer in seinen Liegestuhl sinken lässt.
Auf der Fähre über den Starnberger See fangen vier verschiedene Gruppen Schwerhöriger unabhängig voneinander an vier verschiedenen Tischen an, UNO zu spielen. Manchmal denken wir doch alle gleich.
„Wer von euch hat schon einmal ‚Jaja‘ gesagt oder genickt, auch wenn er nicht verstanden hat?“, fragt Peter Dieler. Ich habe zuerst ‚Dealer‘ verstanden und mich gefragt, womit er dealt. Antwort: Harter Tobak.
Wir heben die Hand.
„Was seid ihr alle für erbärmliche Lügner!“, schimpft er mit einem schelmisch-warmen Funkeln in den Augen. „Warum macht ihr das?“
Aus Traurigkeit. Aus Kraftlosigkeit. Aus Trotz. Aus Wut.
„Stellt euch vor, euer Gegenüber bekommt eure negativen Gefühle mit. Habt ihr euch schon einmal gefragt, wie sich das für ihn anfühlt? Wenn er merkt, dass ihr nur behauptet, ihn zu verstehen?“
Traurig. Kraftlos. Trotzig. Wütend.
„Zur Kommunikation gehören immer zwei. Nicht nur ihr wollt verstehen, sondern der andere will auch verstanden werden.“
7:30 Uhr, Starnberger See, 12 °C Außentemperatur, 13°C Wassertemperatur, schneidender Wind. Über die rutschigen Stufen des Piers tauchst du in das klare Wasser ein. Diesmal wird dein ganzer Körper taub. Du versuchst, deinen Atem zu beruhigen und ein paar Züge zu schwimmen. Und es lohnt sich, denn nach kurzer Zeit wird dir schlagartig wohlig warm, und die Wärme trägt dich durch den ganzen Tag.
Point-of-view: Ein Reel von einem schwarzen Plastikstuhl. Melancholische Musik, flatternde Vorhänge, eine Tür, die zufällt. Das Gefühl von Isolation.
Abends, als sie die selbstgedrehten Reels betrachtet, erinnert sie sich an das, was der Videokünstler Oliver Fobe am Morgen gesagt hat: Das sei nicht nur ein Video von einem Objekt, sondern eine Art, Gefühle auszudrücken. Sie hätte nie gedacht, dass sie mit Gegenständen ihre Innenwelt ausdrücken kann. Wasser oder Orangensaft? Die Mischung macht‘s.
„Ich habe eigentlich nichts weiter gemacht als auf den Auslöser zu drücken.“ Oliver Faulstichs bescheidene Worte klingen durch den halbdunklen Raum. Hinter ihm werden kürzlich geschossene Schwarz-Weiß-Fotos an die Wand projiziert. „Ich war nichts weiter als eine Verlängerung der Kamera. Ihr habt gesagt, wie ich sie halten soll. Nicht ich habe diese Kunstwerke in so kurzer Zeit geschaffen. Ihr wart das!“
Menschen, die über den Boden verteilt in den verschiedensten Positionen hocken und mit Buntstiften auf der Leinwand ihres Nebenmannes weitermalen, so wie Laura Göckeritz es angewiesen hat. Manche haben ihre Hörhilfen ausgezogen, andere lauschen der laufenden Musik. Alle Gesichter sind tiefenentspannt.
Wenn Gerlinde Renzelberg redet, dann hat er immer das Gefühl, in einem altehrwürdigen Vorlesungssaal zu sitzen. Die Dozentin spricht gerade vom ‚Glottisverschlusslaut‘, einem Laut, der nicht von unserem Alphabet abgebildet wird. Unsere Sprache hat tatsächlich einen Laut, den wir nicht bewusst wahrnehmen, geschweige denn aufschreiben können. Er ist genauso unsichtbar, wie oft unser Handicap. Auch sein Symbol [ʔ] ist wie ein Spiegel von dem kleinen Fragezeichen, das oft auf unsere Stirn geschrieben steht.
Du liest „Putin“ von meinen Lippen ab.
Ich habe „Musik“ gesagt.
„Schwerhörige sind von allen Zuhörern die besten. Denn sie müssen ihre gesamte Aufmerksamkeit sammeln und auf dich fokussieren.“
Du bekommst von über vierzig verschiedenen Individuen Umarmungen. Du merkst: Der Abschied schmerzt, aber auf eine gute Art.
Maria Keim, Autorin und Ärztin, Foto: Oliver Faulstich
Der Erfahrungsbericht erschien in der Schnecke 128/Sommer 2025.
Die Blogwerkstatt ist eine Veranstaltung für Menschen mit Hörbeeinträchtigung zwischen 18 und 35 Jahren und/oder Aktiven der Jungen Selbsthilfe Deaf Ohr Alive (DOA). 2026 feiert die Blogwerkstatt ihr 10-jähriges Jubiläum mit einem ganz besonders vielseitigen Programm unter dem Motto „Gemeinsam. Stark. Unzertrennlich“. Wann? Vom 25. April bis 2. Mai 2026. Wo? In Würzburg. Anmeldung unter www.deaf-ohr-alive.de
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